Diesmal kein Rhetoriker des Monats. Das war to little, too late. Aus Sicht des Rhetorikers war es so wenig, dass sich der als Rede an die Nation gelabelte Auftritt unseres Bundespräsidenten bei mir erstmal ein paar Tage setzen musste.
Der Rahmen stimmte. Zunächst. Der große Saal im Schloss Bellevue. Ganz große Gästeliste. Aber den Rahmen ereilte schnell das gleiche Schicksal, wie später die Rede. Beides erinnerte mich an Herrn Tur Tur, den von Michael Ende geschaffenen Scheinriesen. Je weiter man sich von ihm entfernt, umso größer erscheint er. Und umgekehrt. Jedenfalls reduzierte sich als Erstes die Gästeliste immer mehr. Am Ende gaben weder der Bundeskanzler noch die Bundesminister dem Mann Rückendeckung, den sie noch im Februar ins Amt gewählt hatten.
Steinmeier beginnt groß.
Auch die Rede begann inhaltlich sehr groß. Eine Begebenheit aus Steinmeiers spätem Besuch in der Ukraine gab den Ton vor: „Der Enkel sah sie an und fragte: ‘Oma, müssen wir jetzt sterben?’ Die Großmutter konnte ihm die Frage nicht beantworten – und das treibt ihr noch heute die Tränen in die Augen“. Es ging also um Fragen von Leben und Tod. Und das passt auch, denn schließlich ging es darum, dem Volk, oder, um selbst einen nicht ganz so pathetischen Begriff zu nutzen, den Bürgern, Halt in schwierigen Zeiten zu geben. Und sie auf noch kommende, noch schwierigere Zeiten einzustimmen. Es ging darum, „dass die Welt nun eine andere ist”. An entsprechend großen Begriffen hangelte sich die mit „Alles stärken, was uns verbindet” überschriebene Rede des Bundespräsidenten entlang.
Die Rede vom Epochenbruch
Er sprach von einem Epochenbruch und vermied so, den von Bundeskanzler Scholz besetzen Begriff der Zeitenwende zu recyceln. Tatsächlich denkt Steinmeier in seiner Rede in Epochen und spannte den Bogen von der Wiedervereinigung bis zu einer Zukunft in fünfzehn Jahren. Denn: „Wir wollen in fünfzehn Jahren sagen können: Trotz Krieg und Krise – wir haben sichergestellt, dass auch den nachfolgenden Generationen ein gutes Leben auf unserer Erde möglich ist.“ Wer aber an dieser Stelle gespannt auf die große politische Vision wartete wurde enttäuscht. Das gewohnte Kleinklein des täglichen politischen Ringens verwässerte die großen Themen. Entlastungspakete, Abwehrschirm, Gaspreisbremse, Wohngeld. Es ging es doch wieder um die Ansiedlung von Halbleiterfabriken in Sachsen, um fehlende Poststellen auf dem flachen Land und um stabile Internetverbindungen.
Groß begonnen – immer kleiner geworden
Am Ende blieb der Eindruck: Groß begonnen und immer kleiner geworden. Die angebotenen Antworten auf die großen Fragen lauteten Verzicht und Engagement und Ehrenamt. In diesem Zusammenhang verwies Steinmeier sogar nochmal auf seinen eigenen Vorschlag des sozialen Pflichtjahrs. Nicht zuletzt forderte er Widerständigkeit gegen das Gift des Populismus und jeder weiß, welche Partei er damit meinte.
Das ist mir zu wenig. Das ist frech gegenüber denjenigen, die sich noch gar nichts aufbauen konnten, worauf sie nun verzichten könnten. Frech gegenüber denen, die auch vor dem Epochenbruch gerade so über die Runden kamen. Es war im Grunde nicht mehr als ein schulterzuckendes Nichts-anbieten-können. „Ok, Sorry. IHR sitzt in der Scheiße, in die WIR euch geritten haben. Aber wenn IHR den Gürtel enger schnallt und euch daran gewöhnt, dass die guten Zeiten endgültig vorbei sind, dann wird’s nicht so schlimm werden.“
Um nicht den aus meiner Sicht entscheidenden Fehler der Rede zu wiederholen und mich im Unkonkreten zu verlieren: Diese Rede war vor allem eine Bestandsaufnahme von bestehenden Problemen. Nicht alle davon, aber doch viele, hätte eine andere Politik verhindern können. Stichworte: Erneuerbare Energie, Abhängigkeit von Russland. Zur Not auch fehlende Poststellen. Dennoch richteten sich alle Appelle an den individuellen Bürger, der nun angesichts der Krise durch eine Änderung seines konkreten Verhaltens die strukturellen Probleme dieser Republik lösen soll. In die andere Richtung fehlten diese Appelle. Steinmeier, der insbesondere die Ost-Politik der vergangenen Jahre entscheidend prägte, hielt sich mit Appellen an „die Politik“ und mit (Selbst-)Kritik vornehm zurück. Ebenso wie mit Visionen.
Hauptkritik: Steinmeier spricht ÜBER, aber eben nicht MIT uns. Der Kern jeder guten Rede, jedes Impulses, ist, dass es dem Redner oder der Rednerin gelingt den einzelnen Zuhörenden anzusprechen. Das gelingt ihm nie. Du bist nie angesprochen. Unkonkretes “Wir” und “Uns”.
Bezeichnend für mich war diese Passage, die ich im Wortlaut wiedergebe: „Wir wollen unser Land verändern, wir wollen es zu einem besseren machen – und das geht nur gemeinsam. Und so kommt auf uns Ältere, auf meine Generation jetzt die Aufgabe zu, selbst spät im Leben das Gewohnte noch einmal zu überdenken und mitzuhelfen, dass die Veränderung gelingt. Und den Jüngeren, auch hier im Saal, sage ich: Es ist jetzt an Euch, in die Verantwortung zu gehen, Euch einzubringen, gerne kritisch, nicht destruktiv, und unser Land zu verändern, es vielleicht sogar besser zu machen als die Generationen davor. Meine Unterstützung habt Ihr!“
Wow, danke dafür.
KEIN Rhetoriker des Monats.
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