Wer ist Melanie Müller?
Melanie Müller ist ein früheres Porno-Sternchen, das sich zu einem Dauergast in diversen Reality-Shows (u. a. Ich bin ein Star – Holt mich hier raus, Promi Big Brother) und Partyschlagersängerin. Dass sie 2018 den Ballermann-Award in der Kategorie „TV/Medien Award weiblich“ gewann, fasst ihre künstlerische Karriere vielleicht am besten zusammen.
Neben ihren künstlerischen Engagements betreibt sie verschiedene Unternehmungen vom Onlineshop für Sexspielzeug bis zur Bratwurstbude.
Und sie hat ein Problem: Im September 2022 wurden Videoaufnahmen bekannt, die zeigen, wie Teile ihres Publikums während eines Auftritts rechtsradikale Parolen riefen. Im Klartext: Betrunkene Neonazis grölten „Sieg Heil“, begleitet von den entsprechenden Gesten. Auf den Videoausschnitten ist weiter zu sehen, wie Frau Müller dann ebenfalls den Arm entsprechend hebt. Und das war der Moment, in dem Melanie Müller in mein Leben trat.
Was war passiert?
Frau Müller gab nämlich im Nachgang der geleakten Videos diverse Statements ab, in denen sie versuchte, sich zu erklären. Sie hätte nicht den Hitlergruß gezeigt, sondern eine auffordernde Geste gezeigt, die sie seit Jahren im Repertoire habe. Als sie gemerkt hätte, was im Publikum passiert sei, habe sie ihren Auftritt sofort abgebrochen. Sie gab dazu jedoch keine schriftliche Erklärung ab oder verabredete ein echtes Interview, sondern beantwortete vor der Webcam schriftlich eingereichte Fragen. Teils durch das Vorlesen vorbereiteter Statements, teils spontan. Neben allem anderen lieferte sie mit den Videos ein herausragendes Beispiel für schlechte Krisenkommunikation.
Mich erreichten zu diesen Videos Anfragen zahlreicher deutscher Medien, mit der Bitte, ihre Aussagen aus rhetorischer Perspektive zu bewerten und wenn möglich, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen anhand der Körpersprache zu verifizieren. Dahinter steckt die Annahme, dass man Lügner an bestimmten Formulierungen, an der Veränderung ihrer Stimme sowie an einer speziellen Mimik erkennen kann.
Die Ergebnisse meiner Analysen kannst du hier und hier und hier ansehen.
Wie arbeite ich in solchen Fällen?
Bei diesen Analysen erhalte ich von den Redaktionen Videos. Manchmal ist es das komplette Video einer Stellungnahme und manchmal nur ein winziger Ausschnitt. Natürlich beachte ich die emotionale Ausnahmesituation, in der sich Frau Müller während der Aufnahmen befand.
Um eine Person – hier findest du meine Analyse von Wladimir Putin – zu analysieren, muss man meiner Überzeugung nach ihren Hintergrund sehr genau kennen. Wie alt ist sie, woher kommt sie, welche Schulbildung hat sie, wie und wo ist sie aufgewachsen? In diesem Fall war der Hintergrund besonders wichtig. Warum? Weil es in diesem Fall vor allem um eine unter dem eigentlichen Verhalten liegende Einstellung ging.
Einzelne konkrete Fragen – beispielsweise ob sie ihren Auftritt tatsächlich abgebrochen hatte – konnte ich leicht beantworten. Die Richtigkeit der Einschätzung wurde kurz darauf von weiteren aufgetauchten Videos bestätigt.
Rechts, rechtsradikal, oder was?
Die Frage der Fragen aber lautete: ist Melanie Müller rechts oder gar rechtsradikal. Hegt sie entsprechende Sympathien oder hat sie einschlägige Kontakte? Sie selbst distanzierte sich von Anfang an in aller Schärfe und Deutlichkeit davon. Und aus ihrer Sicht hat sie vielleicht sogar recht damit. Denn um die einfache Frage zu klären: „Bist du rechts?“ muss bei mir und bei dem oder der Angesprochenen das gleiche Verständnis davon vorherrschen, was der Begriff „rechts“ bedeutet und was er beinhaltet.
Wir kennen dieses Phänomen von vielen aufgeregt in die TV-Kameras schnaufenden Wutbürger, die mit Neonazis auf Demos marschieren und deren Parolen rufen aber die von sich selbst behaupten, keinesfalls rechts zu sein. Wenn man, wie Frau Müller, in den Neunzigern und den 2000er Jahren im sächsischen Grimma aufwuchs, hat man sicherlich ein anderes Verständnis dieses Begriffs als jemand, der zur gleichen Zeit als Gymnasiast in Freiburg oder Göttingen groß wurde. Die Gegend um Grimma, Delitzsch und Mügeln gilt noch heute als eine der landesweiten Hochburgen der rechten Szene. Es ist beinahe zu klischeehaft, aber Wert herausgesucht zu werden: 2007 erklärte der Ortsbürgermeister von Mügeln (FDP) nachdem 50 Männer unter “Ausländer raus”-Rufen acht Inder durchs Dorf gejagt hatten: „Ich sage klipp und klar: Rechtsextremismus schließe ich aus.”
Eine Generation, umgeben von rechter Symbolik
Wir müssen realisieren, dass eine ganze Generation groß geworden ist, umgeben von rechtem Schmutz und rechter Symbolik. Und das prägt auch jenseits von bewussten Entscheidungen für die eine oder die andere Seite. Die Symbolik, die Musik, die Kleidung haben einer ganzen Generation ihren Stempel aufgedrückt.
Wenn ich also die Aussagen eines in diesem Umfeld geprägten Menschen analysiere, muss ich diesen Umstand immer im Kopf behalten. Was für den einen gewaltbereite Neonazis sind, sind für den anderen ein paar tätowierte Hooligans, die ab und zu mal über die Stränge schlagen. Was für den einen einfach ein cooler Kapuzenpullover ist, ist für den anderen ein offen zur Schau getragenes Szene-Erkennungszeichen. Wenn Müller auf Facebook schreibt: „Ich schäme mich gerade für Deutschland und für unsere Politik vor unseren alten Menschen. Hauptsache unsere ausländischen Mitbürger haben ein neues Telefon und ewig finanzielle Unterstützung […]“, heißt das nicht, dass sie sich selbst besonders rechts verordnet. [https://www.focus.de/kultur/stars/nach-sieg-heil-parolen-auf-konzert-melanie-mueller-welche-verbindungen-sie-zum-rechten-milieu-hat_id_154644583.html]. Dass man in einem Boxgym trainiert das „da jetzt drei, vier Hooligans mit drin“ hat und das der rechtsextremen Szene in Leipzig zuzuordnen ist, wird dann nicht als Problem wahrgenommen.
In dieser Normalisierung rechter (Sprach) Codes liegt eine große Gefahr für unsere Demokratie. Es ist der Beginn einer Grenzverschiebung, die so weit geht, dass die Grenze überhaupt nicht mehr erkannt wird. Die neue Normalität befindet sich dann bereits jenseits der Grenze.
Ich bin überzeugt, dass Frau Müller sich in diesem Zustand befand. Erst die entstandene Aufregung hat diesen Zustand aufgebrochen. Frau Müller wurde bewusst, dass diese Sache ziemlich groß werden würde, sie hatte sich die hartnäckige BILD eingetreten. Irgendwo im Hinterkopf schien auch Bewusstsein dafür vorhanden zu sein, dass das Verhalten eben nicht ok war, dass es auch andere Reaktionsmöglichkeiten gegeben hätte. Sie fühlte sich ertappt, wusste aber noch gar nicht so richtig wobei.
Mimik und Gestik
Diese Unruhe und Unsicherheit ließ sich wiederum leicht aus ihrer Kommunikation herauslesen, aus ihrer Gestik und ihrer Mimik. Auch wenn sie das Gefühl hatte, bestimmte Fragen zur Zufriedenheit beantworten zu können, konnte man die Erleichterung sehen. Diese Dinge sind jedem in Körpersprache und Rhetorik geübten Experten ersichtlich, auch ohne dass er dafür Referenzpunkte benötigt. Was meine ich damit? Wenn jemand bei einer bestimmten Aussage beispielsweise nach oben links blickt, verrät uns das nur, dass die Aussage eine bestimmte Emotion weckt, die durch diesen speziellen Mikroausdruck unbewusst sichtbar wird. Welche Emotion das ist, können wir ohne Referenzpunkte nicht wissen. Wir wissen auch nicht, warum die Aussage eine bestimmte Emotion ausdrückt. Dazu kommt, dass sich der Referenzpunkt unter Druck verschiebt. Plötzlich werden die individuellen Blickrichtungen vertauscht. Und Frau Müller stand sichtlich unter Druck.
Was wir erkennen können, ist oftmals das sogenannte „Duping Delight“, das Aufflackern eines unbewussten Lächelns, wenn der Sprecher das Gefühl hat, mit einer Aussage „durchgekommen“ oder „davon gekommen“ zu sein. Es ist das unbewusste kindliche Ätschi-bätschi, das sich Bahn bricht.
Sprachmuster
Leichter zu analysieren sind dagegen Sprachmuster. Wie detailreich wird eine Geschichte erzählt? Werden Bestätigungsfloskeln benutzt etc. Gerade weil wir uns gerne von unserer eigenen Sprache mitreißen lassen ist es wichtig, sich im Krisenfall eng an ausgearbeitete Statements zu halten oder Fragen sogar gleich ausschließlich schriftlich zu beantworten. Warum Frau Müller das nicht tat, kann zwei Gründe haben. Erstens: profaner Mangel an Professionalität. Zweitens: Das ganze Thema war ihr nicht wichtig, bzw. die Wichtigkeit für ihre weitere Karriere nicht bewusst.
Das vorerst letzte Kapitel der Müller-Saga, an dem ich mitschreiben durfte, war die Analyse ihrer Antworten auf Fragen zu einer Hausdurchsuchung, die im Nachgang zu ihrem Auftritt stattfand. Während Müller auf Mallorca weilte, durchsuchte die Polizei ihr Haus in Leipzig nach weiteren Videobeweisen. Der Verdacht auf das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen steht im Raum. Als Reporter sie in Spanien auf das Thema Hausdurchsuchung ansprachen, reagierte sie so: „In Deutschland wird das gerade kontrolliert, aber man wird nichts finden. Aber interessiert euch doch mal dafür, dass halb Deutschland nicht seine Gasrechnung bezahlen kann. Gibt doch viel wichtigere Sachen, oder?“
Die trotzige Gegenfrage zeigt zwei Dinge: Sie hat mit Fragen zur „Razzia“ gerechnet. Diese Antwort war vorbereitet und bedient einen klassischen Whataboutismus, einen rhetorischen Griff in die Mottenkiste. Denn schließlich kann man mehrere Dinge gleichzeitig besorgniserregend finden. Gleichzeitig hat sie sich bewusst ein Thema ausgesucht, von dem sie sich sicher sein kann, dass es von vielen Menschen verstanden wird, das aber gleichzeitig von rechten Kreisen zur Mobilisierung genutzt wird. [https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/demo-energiepreise-ukraine-krieg-russland-leipzig-chemnitz-100.html].
Also: Opfer ungerechtfertigter Vorwürfe oder rechte Blase. Lass es mich so ausdrücken: Wenn etwas aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es wahrscheinlich eine Ente. Selbst wenn es sich selbst nicht für eine Ente hält.